"Zu viel Schmerz in den Augen"

Zelte für Erdbebenopfer: Der Verein „Schwesterherzen Krefeld-hilft e.V.“ brachte tonnenweise  Hilfsgüter ins Krisengebiet.
"Zu viel Schmerz in den Augen"
Nichts hat Polizeioberrätin Aylin Sözen so erschüttert wie die Gewalt der Natur beim Erdbeben in der Türkei. Sie gründete den Verein „Schwesterherzen Krefeld-hilft e.V.“, um den Opfern zu helfen.
Streife-Redaktion

Die Millionenstadt Antakya am 6. Februar, morgens um 4.17 Uhr. In der türkisch-syrischen Grenzregion schlafen die meisten Männer, Frauen und Kinder noch, als 18 Kilometer unter ihnen zwei Erdplatten zusammenstoßen und die größte Naturkatastrophe seit 100 Jahren auslösen: Zehntausende Menschen werden unter den Trümmern ihrer Häuser verschüttet.

Angehörige graben mit bloßen Händen nach Überlebenden. Eltern weinen um ihre Kinder. Kinder weinen um ihre Eltern. „Diese Bilder, ich konnte es nicht ertragen, ich musste helfen“, sagt Polizeioberrätin Aylin Sözen (39), Leiterin der Duisburger Führungsstelle in der Direktion Gefahrenabwehr/Einsatz (FüstGE).

Als sie von dem Unglück hörte, war sie auf dem Weg zur Arbeit. „Was ist mit meiner Schwester, meinen Cousinen, Tanten, Onkeln?“, war ihr erster Gedanke.

Die Familie ihres Vaters wohnt am Rande der Erdbebenregion. „Hallo, hier ist Aylin, ist bei euch alles in Ordnung?“, tippt sie hektisch in ihr Handy. Zum Glück war niemand verletzt. Dennoch hat dieser Tag ihr Leben verändert: Acht Tage später schloss sie sich gemeinsam mit ihrer Schwester und einem weiteren befreundeten Schwesternpaar zusammen und begann eine große Hilfsaktion. Nur drei Wochen später wurde der gemeinnützige Verein „Schwesterherzen-Krefeld hilft e.V.“ angemeldet.

Bis heute hat der Verein mehr als 30.000 Euro Spendengelder gesammelt und davon Lebensmittel, Medikamente und Kleidung gekauft. Sözen: „Uns ist es wichtig, dass jeder Cent bei den Notleidenden ankommt.

Aylin Sözen ist in Krefeld aufgewachsen, so wie die sieben Gründungsmitglieder des Vereins: kaufmännische Angestellte, Erzieher, Mechaniker, Polizisten, alle mit türkischen Wurzeln. Über verschiedene Social-Media-Kanäle schrieben sie ihre privaten Kontakte an, um Geld zu sammeln. Eine kleine Aktion, dachten sie. Sie wurde riesig.

Ein Mitglied der „Schwesterherzen“ ist Arzt und war vor Ort. Einmal schrieb er: „Den Kindern platzen die Lippen auf, weil es hier so staubig und kalt ist. Könnt ihr helfen?“ Konnten sie. Wieder ging ein Social-Media-Aufruf raus und kistenweise Lippenpflegestifte kamen herein. So ging das weiter: Verschiedene Pfadfinderstämme und Jugendhäuser aus NRW (Krefeld, Mülheim, Dülmen …) spendeten 30 Zelte. Privatleute brachten Hygieneartikel und Medikamente. Die Berufsfeuerwehr Krefeld stattete ihren Doc, bevor er ins Katastrophengebiet flog, von Kopf bis Fuß mit Einsatzbekleidung und einem Notfallrucksack aus.

Während der sich im Krisengebiet um die Schwerverletzten kümmerte, stapelten sich in den Wohnzimmern und Garagen der anderen Vereinsmitglieder Hygieneartikel, Feldbetten, Öfen, Windeln, Babynahrung, Isomatten – bis heute sind mehr als 30.000 Euro Spenden eingegangen. Sözen: „Wir haben vollpower geschuftet. Aber das macht man einfach, weil man helfen will.“

Sözen ist seit über 20 Jahren bei der Polizei. Krisen gehören zu ihrem Job. Bis Juli vergangenen Jahres war sie auf Mission im Kosovo. Heute plant sie Einsätze gegen kriminelle Clanmitglieder, Rockerbanden und aggressive Fußballfans.

Das Erdbeben war eine Gewalt, die sie noch nicht kannte: die Gewalt der Natur. Deshalb hat sie auch sofort ihren bereits geplanten Urlaub genutzt, um die Hilfsgüter ins Krisengebiet zu bringen. Ein Berg kleiner Klebezettel erinnert an den 20. Februar, den Tag, als sie ins Flugzeug nach Adana stieg, einer Stadt in der Nähe des Krisengebiets. Die Zettel werden eigentlich bei der Kofferaufgabe aufs Ticket geklebt. Sözen hatte keinen Koffer, dafür vier Dutzend Kisten mit mehr als 500 Kilo. Kollegen haben sie auf Gepäckwagen zum Abfertigungsschalter geschoben. Flug und Transport waren umsonst, weil Sözen eine Bescheinigung der türkischen Botschaft für humanitäre Hilfslieferungen hatte.

Hat sie niemals gezögert? „Ich bin kein ängstlicher Mensch“, sagt Sözen. „Doch als der Pilot keine Landeerlaubnis bekam, weil es gerade heftige Nachbeben gab, wurde mir doch mulmig.“

Gut 190 Kilometer sind es vom Flughafen bis Antakya, dem Epizentrum des Bebens. Dafür brauchte der Pritschenwagen, den Freunde organisiert hatten, vier Stunden. „Aufgerissene Straßen, aufgeplatzte Leitungen, überall Trümmer. Es war wie im Krieg. Es war erschütternd“, so Sözen.

Das Erdbeben ist längst aus den Schlagzeilen verschwunden, der Verein „Schwesterherzen“ hilft immer noch. Gerade war die Polizeioberrätin zum zweiten Mal in der Türkei, diesmal in Krefelds Partnerstadt Kayseri. „In Kayseri hatte das Erdbeben keine Folgen. Dort sind aber viele Geflüchtete aus den Regionen, in denen es nichts mehr gibt“, so Sözen. Wenn sie mit den Menschen spricht, fragt sie nicht mehr: „Hast du jemanden verloren?“ Sie fragt: „Wen hast du verloren?“ Oft fragt sie auch gar nicht, weil zu viel Schmerz in den Augen ist. So wie bei dem 17-Jährigen, der allein in einem Studentenheim wohnt und sich auf die Uni vorbereitet. Sie hat ihm ein Tablet geschenkt. Er hat geweint. Die Oberrätin, die in ihrem Polizei-Alltag nicht zimperlich ist, sagt: „Mir standen auch Tränen in den Augen.“

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